Album-Tipp: „Fetch The Bolt Cutters“ (2020) von Fiona Apple

Album Cover Fetch the Bolt Cutters von Fiona Apple
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  • Beitrag zuletzt geändert am:19. April 2022
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Zurück mit Hundebellen und Bolzenschneider: Fiona Apples kompromissloses, neues Album

Bei diesem Albumtitel geht es ihr darum, Kontrolle zu übernehmen und sich aus Situationen zu befreien, die nicht gut tun.

Genre: Singer-Songwriter, Alternative, Art-Pop
Veröffentlichung: 17.04.2020
Interpret_in: Fiona Apple

Text: Arian Hagen

Hintergrund und Interview

Kommissarin Stella Gibson steht vor einer verschlossenen Tür. Im Raum dahinter wurde zuvor ein Mädchen gefoltert. „Fetch The Bolt Cutters“ (dt.: „Hol den Bolzenschneider!“) sagt sie zu ihren Kolleg_innen. Diese Szene der BBC-Serie „The Fall“ inspirierte den Titel Fiona Apples kompromisslosen, neuen Albums.

Nach acht langen Jahren ist die talentierte Songwriterin zurück mit 13 neuen Liedern. Bei diesem Albumtitel geht es ihr darum, Kontrolle zu übernehmen und sich aus Situationen zu befreien, die nicht gut tun. Sich zu trauen, Gedanken klar auszusprechen. Das verriet die Sängerin der Journalistin Emily Nussbaum in einem ihrer immer seltener werdenden Interviews, das am 23. März 2020 in der New Yorker erschien. (Quelle: newyorker.com)

Fiona Apple in der Öffentlichkeit

Wenn Fiona sich öffnet, dann nimmt sie kein Blatt vor den Mund.

In einem Zeitalter, in dem die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Leben immer mehr verschwimmen und viele dauerhaft um Aufmerksamkeit zu schreien scheinen, tritt Fiona nur in die Öffentlichkeit, wenn sie es wirklich für nötig hält. Die 42-jährige lebt zurückgezogen in ihrem Haus in Venice Beach und verbringt dort die meiste Zeit mit ihren Hunden. Ihre einzige Internetpräsenz sind kurze Videos, die sie hie und da an ihre Fans schickt. Diese werden dann auf einer Fiona Apple gewidmeten Tumblr-Seite veröffentlicht.

Anfang März war sie in einem solchen Videoclip zu sehen und verriet auf Zeichensprache, dass ihr neues Album fertig sei. Der düstere Hintergrund des Albumtitels ist aufgrund der Lebensgeschichte der gebürtigen New-Yorkerin nicht überraschend. Wenn Fiona sich öffnet, dann nimmt sie kein Blatt vor den Mund. Das war schon seit Beginn ihrer Karriere so. So erzählte die damals 19-Jährige bereits in den 90ern, dass sie mit 12 Jahren vergewaltigt wurde und Depression und Zwangsstörungen ein ständiger Begleiter ihres Alltages seien.

Fionas Musikkarriere

Ihr Debutalbum „Tidal“ erschien 1996 und beeindruckte Hörer_innen schon damals mit cleveren, ausdrucksstarken Texten und einem großen Gesangstalent.

Auch in ihrer Musik hatte Fiona schon seit ihrem ersten Albums den Mut, ihre Gedanken scheinbar ungefiltert zu äußern. Eine ihrer größten Stärken ist es, ihre komplexe Persönlichkeit in ihren anspruchsvollen, aber auch stets eingängigen Liedern einzufangen. In ihren Texten beschreibt sie häufig komplizierte Gefühlswelten, schwierige Beziehungen zu Männern.

Vorwürfe, Schuldgefühle, Wut und ein nicht zu verwirklichender Wunsch nach Liebe und Ruhe sind Themen, die in ihren Liedern immer wiederkehren. Ihr Debutalbum „Tidal“ erschien 1996 und beeindruckte Hörer_innen schon damals mit cleveren, ausdrucksstarken Texten und einem großen Gesangstalent.

Für das Album einer jungen Musikerin klang es erstaunlich ausgereift. Es schien, als hätte Fiona ihre eigene Stimme bereits gefunden. Das Musikvideo des Intro-Tracks gewann 1997 auf den MTV Video Music Awards den Preis für das beste Newcomer-Video. Leider steht das Video im Internet nicht zur Verfügung, deswegen seht ihr hier das Video zu „Criminal“.

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Die Dankesrede der 20-jährigen sollte zu einem der populärsten Momente ihrer Karriere werden. „This world is bullshit“, sagt sie wütend. Sie rief dazu auf, niemals den Trends der Popkultur zu folgen, sondern den eigenen Weg zu gehen. Es war nicht das einzige Mal, dass die Sängerin in den Medien aneckte.

Für ihr zweites Album kämpfte sie darum, den damals mit 444 Zeichen langen, längsten Albumtitel aller Zeiten zu benutzen. Das meist abgekürzt als „When The Pawn…“ betitelte Album erschien 1999 und sah Fiona in musikalischer Hochform. Das kraftvolle und düstere Album war ihr erstes großartiges Gesamtkunstwerk.

2005 folgte das farbenfrohe „Extraordinary Machine“. Im Laufe ihrer Karriere zog sich Fiona mehr und mehr aus dem Rampenlicht zurück. Musikalisch überzeugte sie Kritiker_innen und Fans jedoch durchweg. 2012 veröffentlichte sie ihr viertes Album „The Idler Wheel…“, ein im Gegensatz zu „Extraordinary Machine“ minimalistisch und rustikal produziertes Album, das für einige Kritiker_innen ihr Meisterwerk ist.

Fiona Apple ist über die Jahre zu einer sehr geschätzten Musikerinnen geworden. Unter Musikliebhaber_innen gilt sie als eine der bedeutendsten Künstlerinnen ihrer Generation. Ob ihr neues Album nach acht Jahren den hohen Erwartungen gerecht werden kann, war unklar.

Am 17. April 2020 wurde „Fetch The Bolt Cutters“ zunächst digital veröffentlicht. Ihr Label hatte vorgeschlagen, aufgrund des Corona-Virus bis Oktober zu warten. Doch die standfeste Musikerin ging ihren eigenen Weg.

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Ein Haus als Instrument

Auch wenn ihr Zuhause textlich auf „Fetch The Bolt Cutters“ nicht erwähnt wird, ist es stets präsent.

Seit 2012 spielte Fiona mit dem Gedanken, ein Album über ihren Wohnort in Kalifornien zu konzipieren. Auch wenn ihr Zuhause textlich auf „Fetch The Bolt Cutters“ nicht erwähnt wird, ist es stets präsent. Alle Lieder wurden zusammen mit befreundeten Musiker_innen im Wohnzimmer der Sängerin aufgenommen.

Dort, wo die meisten Produzentk_innen Stimmen möglichst rein und trocken aufnehmen, lässt Fiona ihre Stimme im Raum klingen. Alles, was ein Geräusch im Haus von sich geben kann, wurde von den Musiker_innen benutzt. Neben Gesang, Klavier, Kontrabass und zahlreichen Percussion-Instrumenten sind in den Albumcredits auch ein Stuhl, das Schlagen eines Feuerzeugs auf ein E-Piano und ein Metallschmetterling angegeben.

In ihrem Interview mit der New Yorker beschrieb sie, dass sie die Band auf diesem Album als einen Organismus und nicht als Verbindung einzelner Glieder betrachtet habe. Auch Fionas Hunde sind namentlich für ihr Hintergrundbellen angegeben. So wurde der Raum ihres Hauses zu einem wichtigen Bestandteil der Klangkulisse. „Fetch The Bolt Cutters“ folgt ihrem letzten Album „The Idler Wheel“ mit seiner sparsamen, perkussiven Produktion.

Der Rhythmus gibt den Ton an

Der Rhythmus steht auf „Fetch The Bolt Cutters“ stärker im Vordergrund als auf ihren vorherigen Alben.

Das ständige Stampfen, Klatschen und Schlagen verleiht den Stücken einen harten und sperrigen Klang. Die komplexen, sich ständig wiederholenden Rhythmen geben den Liedern den Charakter eines für uns vielleicht befremdlich klingenden Rituals. Häufig wiederholt Fiona darüber eine einzige Textzeile als eine Art Mantra. Der Rhythmus steht auf „Fetch The Bolt Cutters“ stärker im Vordergrund als auf ihren vorherigen Alben.

Hie und da schenkt uns Fiona den Klang ihres Klaviers, eines Wurlitzer E-Pianos oder einer weichen Gitarre, die uns einen Moment der Erholung von den trockenen, perkussiven Schlägen gönnen. Es ist ein Album, das viel von den Hörer_innen verlangt und für Interessierte, die bislang mit der Sängerin nicht vertraut waren, nicht der einfachste Start.

Jene Kompromisslosigkeit und Komplexität, die in ihren früheren Werken von Beginn an zu schlummern schienen, kommen hier voll und ganz zum Vorschein. Noch nie hat Fiona so viele Unreinheiten zugelassen, den schrägen Seiten ihrer Stimme so viel Raum gegeben. Der raue, rustikale Klang der Instrumente, sowie die ständigen Tempo- und Rhythmuswechsel verlangen wiederholtes Hören.

Die Texte

„My dog, and my man, and my music is my holy trinity.“

Auch auf der Text-Ebene gibt es viel zu entpacken. Wie gewohnt, macht sich die Songwriterin verletzlich und wirkt in vielen Momenten verbittert und vorwurfsvoll.

Der Intro-Track „I Want You To Love Me“ beginnt philosophisch: „I’ve waited many years. Every print I left upon the track has led me here.“. (dt.: „Ich habe viele Jahre gewartet. Jeder Abdruck, den ich auf dem Pfad/Lied hinterlassen habe, hat mich hierhin geführt.“).

In der zweiten Strophe denkt sie darüber nach, ob sie etwas zurücklassen wird: „And I know when I go all my particles will disband and disperse. And I’ll be back in the pulse. And I know none of this’ll mattter in the long run. But I know a sound is still a sound around no-one.“ (dt.: Und ich weiß, wenn ich gehe, werden sich all meine Partikel auflösen und zerstreuen. Und ich werde zurück am Puls sein. Und ich weiß, nichts davon wird auf lange Sicht eine Rolle spielen. Aber ich weiß, ein Klang ist auch ein Klang, wenn niemand dabei ist.“).

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Im Refrain wiederholt sie, dass sie einfach von jemanden geliebt werden möchte. Nach diesen Zeilen nimmt Fiona uns im nächsten Lied „Shameika“ mit auf eine Reise zurück in ihre Kindheit. Sie beschreibt eine Unterrichtsstunde, in der sie Striche auf ihr Blatt zeichnet, um die Zeit schneller verstreichen zu lassen. Die Zeile „Shameika said I had potential“ (dt.: „Shameika hat gesagt, ich hätte Potential“), wird im Refrain in Dauerschleife wiederholt als würde die Sängerin immer noch daran festhalten, dass jemand an sie geglaubt hat.

Der Religionsunterricht konnte sie anscheinend nicht zum Christentum bekehren, denn später im Lied singt sie: „My dog, and my man, and my music is my holy trinity“ (dt.: „Mein Hund, mein Mann und meine Musik sind meine heilige Dreifaltigkeit.“). Das Bellen dieser Hunde ist im Laufe der Titel tatsächlich immer wieder zu hören, und sie wurden dafür in den Albumcredits sogar namentlich erwähnt.

Lieder wie „Newspaper“ und „Ladies“ handeln davon, dass Frauen sich nicht von Männern ausspielen lassen sollten. Einige Zeilen stechen heraus: „Kick me under the table all you want I won’t shut up, I won’t shut up“ (dt.: „Tritt mich so lange unter dem Tisch, wie du willst, ich werde nicht die Klappe halten.“) und in Bezug auf die Partner_innen ihres Ex-Freundes: „And no love is like any other love. So, it would be insane to make a comparison with you.“ (dt.: „Und keine Liebe ist wie eine andere Liebe. Also wäre es wahnsinnig, einen Vergleich mit dir zu machen.).

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Einige harte Zeilen sind an Männer gerichtet. Auf dem Lied „Relay“ schreibt sie, dass sie jemanden dafür verurteilt, gut erzogen und groß zu sein. Und dafür, dass derjenige nie Opposition erfahren musste. Sie schrieb den Text als Reaktion auf die Anhörung des Richters Brett Kavanaugh, der von mehreren Frauen wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt war.

Das Lied „For Her“, beinhaltet wohl Fionas brutalste Zeile des Albums: „Well, good morning! Good morning! You raped me in the same bed your daughter was born in.“. (dt.: „Na, Guten Morgen, Guten Morgen, du hast mich im selben Bett vergewaltigt, in dem deine Tochter geboren wurde.“).

Fazit

Es ist das Album einer Künstlerin, die macht, was sie will, wann sie es will. Und das ist gut.

Die traditionellen Liedformen, die sie auf ihren vorherigen Alben gemeistert hat, werden hier zurückgelassen. Zum ersten Mal in ihrer Karriere fällt es schwer, ihre Lieder als Popmusik zu bezeichnen. Und doch ist es ganz klar ein echtes Fiona Apple-Album. Und eines, das mit ihren besten mithalten kann.

„Fetch The Bolt Cutters“ ist ein experimentelles Album einer erfahrenen und einzigartigen Musikerin, die sich vor ihren Eigenarten nicht scheut, sondern genau diese immer trotzig und offen darbietet und verteidigt. Es ist das Album einer Künstlerin, die macht, was sie will, wann sie es will. Und das ist gut.


Wer tiefer in die Thematik und das Album eintauchen möchte darf sich gern die Kritik von ByteFM durchlesen.


Weitere Album-Kritiken von mir findest du in der Rubrik Album-Tipps.

Arian

Ich komponiere und produziere seit meinem 15. Lebensjahr eigene Musik und verbinde in dieser gerne Live-Instrumente mit atmosphärischen, elektronischen Elementen. Seitdem geht das Musikmachen und -hören bei mir einher und ich bin genauso Künstler wie Musikliebhaber jedes Genres. Meine Lieblingsmusik ist innovativ, emotional und auf technischer Ebene beeindruckend. Zur Zeit studiere ich Musikwissenschaft im Master und gebe nebenbei privat Musikunterricht. Neben Musik sind Filme, Psychologie und Philosophie große Interessengebiete von mir.

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