Ob in Hotelfoyers, Fahrstühlen, Wartezimmern oder auf dem Klo, diese Musik ist so allgegenwärtig wie in ihrem Ursprungsjahr 1725.
Konzert am 8. Oktober 2018 in der Philharmonie Berlin
Text und Fotos: Claudia Dünckmann
Es vergeht kaum eine Jahreszeit, in der ein_e Künstler_in nicht seine/ihre Geige, sein/ihre Klavier, Cello oder irgendein anderes Musikinstrument in die Hand nimmt und auf die geniale Idee kommt, Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ neu zu interpretieren. So verwundert mich es auch nicht, dass das Stück mittlerweile überall zu hören ist. Ob in Hotelfoyers, Fahrstühlen, Wartezimmern oder auf dem Klo, diese Musik ist so allgegenwärtig wie in ihrem Ursprungsjahr 1725. Vor diesem Hintergrund stellt sich einem die Frage: Warum für ein Vivaldi-Konzert Geld ausgeben, wenn man einfach auf die Toilette gehen kann? Dafür gibt es zwei gute Gründe: der eine heißt Daniel Hope, einer der weltbesten Geiger; der zweite Grund heißt Max Richter. Auch er kam auf die Idee, das Stück neu aufzunehmen. Das Ergebnis aus beiden ist das Konzert am 8. Oktober 2018 in der Berliner Philharmonie, das auf allen Ebenen überrascht.
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Falsches Konzert?
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Daniel Hope kommt mit dem Zürcher Kammerorchester, dessen Leiter er seit 2016 ist, um 20 Uhr auf die Bühne der Berliner Philharmonie. Kaum auf der Bühne hebt er den Arm, greift nicht wie erwartet zum Mikro, sondern streicht das erste Mal über seine Guarneri-Geige. Eigentlich hatte ich mich auf ein „Hallo, hier bin ich.“ eingestellt. Doch stattdessen werde ich gleich mit Geigenklängen überfallen. Zudem muss ich nach wenigen Sekunden feststellen, dass das nicht Vivaldi ist. Nervös suche ich nach anderen fragenden Gesichtern, aber anscheinend bin ich die Einzige, die mit der Musik nichts anfangen kann. Also lehne ich mich zurück und höre etwas unentspannt zu. Danach greift Hope endlich zum Mikro und begrüßt das Publikum. Man habe ihn gebeten, doch ein paar Worte zu sagen, da das Programm nicht rechtzeitig angekommen sei. Wie großzügig von ihm! Danach verliert er sich in Lobeshymnen über die „Vier Jahreszeiten“ und kündigt damit auch den Beginn des Konzerts an. Mir fallen tausend Steine vom Herzen. Endlich Vivaldi!
Ein kleiner Teil des Orchesters sitzt, die meisten stehen. Das verleiht der Atmosphäre eine belebende Dynamik, die die bereits zu spürende Spannung im Konzertsaal nur noch mehr kitzelt. In der Mitte platziert sich Daniel Hope, der mit seinen toupierten Haaren aussieht wie die moderne Fassung von Mozart. Das Orchester fängt an zu spielen; den Klassiker erkennt man sofort – leider! Denn was ich eigentlich hören will, ist die Neuinterpretation von Max Richter. Schon wieder wackle ich nervös von der rechten auf die linke Pobacke. Programm vergessen – pa! Der will uns für dumm verkaufen! Aber nicht mit mir! Ich habe das Album hunderte Male gehört, könnte quasi da unten auf der Bühne stehen und mitspielen, ich kenne es in- und auswendig! Dachte ich zumindest. Oder doch nicht? Ich fange an, an mir selbst zu zweifeln.
Was wäre, wenn die ganze Welt Max Richters „Vier Jahreszeiten“ lobte, während ich euphorisch meinen Senf dazu gab, aber wir über zwei verschiedene Alben sprachen? Der Gedanke lässt mich nicht mehr los. Spätestens jetzt spielt das Konzert die zweite Geige. Schade eigentlich. Denn wenn ich mal irritiert zuhöre und hinschaue, ist das Dargebotene wunderschön. Von leisen Tönen der Frühlingswinde bis hin zu rockenden Klängen der Sommergewitter. Die radikale, spielerische und ausdrucksstarke Herangehensweise Hopes steht dabei immer im Mittelpunkt. Für die anderen erstklassigen Streicher_innen scheint das expressive Spielen des Stargeigers eine Orientierung zu sein. Immer wieder tauschen sie Blicke aus, lächeln sich an und lassen sich von der Energie mitreißen. So kommt zum Vergnügen des Zuhörens das des Zusehens. Zum Schluss gibt es Standing-Ovation. Nach ein paar Minuten Klatschen gibt uns Hope den Hinweis: „Pause.”.
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Vivaldi vs. Richter
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Daniel Hope wird mit voranschreitender Zeit immer gesprächiger. Das gefällt mir. So erklärt er uns nach der Pause die Entstehungsgeschichte der „Recomposed“-Variante von Max Richter, weshalb ich eigentlich gekommen bin. Erst jetzt wird mir bewusst, dass Daniel Hope acht Jahreszeiten spielen wird. Ein direkter Vergleich, der spannend ist. Während das Original äußerst filigran war und die Zartheit der Musik zum Tragen kam, der Kontrast zwischen den Naturkräften hör- und spürbar war, ist die Intensität Richters Neufassung von Anfang an immens hoch. Das liegt vor allem daran, dass die Instrumente verstärkt werden und ab und zu ein Synthesizer zu hören ist. Auch die Spielweise von Daniel Hope ändert sich. Er ist emotionaler und noch mitreißender.
Für mich wirkt das alles wie ein Traum. Dieses Stück endlich live zu hören, fühlt sich unwirklich an und führt dazu, dass meine Tränendrüsen im Dauereinsatz sind, leider auch zum Leid der anderen Konzertbesucher_innen. Wer einmal richtig am Heulen war, weiß wovon ich rede. Taschentücher rauskramen, dezent die Nase hochziehen und dazu lautlos schluchzen – all das ist nicht so einfach, aber ich möchte meinen, dass ich das ganz gut meistere. Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht verwunderlich, dass ich zum Schluss aufspringe und laut „Woooooohooooo“ schreie – als Einzige in diesem doch sehr konservativen Ambiente.
Die Idee, beide Stücke an einem Abend zu spielen, ist ein voller Erfolg und begeistert die Zuhörer_innen einschließlich meiner Ohren vollends. Und obwohl beide Werke den gleichen Namen tragen, sind sie grundsätzlich verschieden und erstrahlen nebeneinander in einem ganz neuen Licht. Für mich ist aber klar, bei welcher Version mein Herz höher schlägt. Noch Tage danach bin ich von diesem Abend berauscht. Gleichzeitig steigt die Angst in mir auf, dass ich irgendwann auf’s Klo gehe und Max Richters „Vier Jahreszeiten“ höre. Dann blicke ich nach oben und drohe dem lieben Gott! Bitte nicht! Ich will Max Richter nicht auf der Toilette hören!