Nach knapp einer Stunde fließen bei mir nur noch die Tränen.
Max Richter am 4. Juni 2018 live in der Berliner Philharmonie
Text und Fotos: Claudia Dünckmann
Inhalt
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Max Richter kennt keine Montage
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Seit dem Kauf meines Tickets sind genau vier Monate und 28 Tage vergangen. Vier Monate und 28 Tage, in denen ich versucht habe, nicht an das Konzert zu denken, weil ich ansonsten wegen der verbleibenden Wartezeit depressiv geworden wäre. Anders ausgedrückt: Ich habe verdammt lange auf dieses Konzert gewartet und die Erwartungen sind groß. Nun stehe ich müde am Montag, den 4. Juni 2018, um 19:32 Uhr vor der Berliner Philharmonie und frage mich: Warum ist das Konzert an einem Montag? Warum muss Max Richter ausgerechnet an dem verschlafensten Tag der Woche auftreten? Für Max Richter gibt es wahrscheinlich keine Montage.
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Vier Gründe, die für ein Klassik-Konzert sprechen
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Das tolle an einem Klassik-Konzert sind die kleinen angenehmen Details. Erstens, das Konzert beginnt pünktlich. Die Platzzuweisung gibt einem die Freiheit, kurz vor dem letzten Gong den warmen Schluck Restbier zu trinken und sich dann entspannt auf den sicher freien Platz (zweitens) zu setzen (durchquetschend vorbei an all den anderen vorausschauenden Menschen, die bestimmt schon 10 Minuten sitzen und gespannt auf die Bühne starren – sie könnten ja was verpassen). Drittens, die Sitze sind zudem äußerst bequem, sogar gepolstert. Viertens, der Blick auf die Bühne ist von jedem Platz in der Philharmonie uneingeschränkt. Das ist das Besondere an diesem Konzerthaus. Hier steht eben nicht nur die Musik im wahrsten Sinne des Wortes im Mittelpunkt, sondern auch der Mensch. Der Architekt Hans Sharoun hat die Philharmonie einmal so beschrieben: „Ein Mensch im Angesicht eines andern, gereicht in Kreise, in mächtig schwingendem Bogen um strebende Kristall-Pyramide.“.
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Stiller Protest auf der Bühne
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Um punkt 20 Uhr betritt Max Richter mit seinem Streichquintett die Bühne. Das Publikum verstummt derweil und es wird totenstill. Keiner traut sich etwas zu sagen und selbst das Räuspern in der hintersten Ecke stört die fast mit Händen zu greifende Spannung. Ich werde das Gefühl nicht los, dass das Konzert bereits begonnen hat, als wenn die Stille quasi Programm ist. Schließlich blickt Max Richter ins Publikum, nimmt das Mikrofon und verrät uns das erste Stück: „Infra“.
Infra ist ursprünglich eine Kooperation mit dem Royal Ballet und dem britischen Choreographen Wayne McGregor gewesen. Später entwickelte er das 25-minütige Stück zu einem Album weiter und widmete es dem Bombenanschlag in London. Infra bedeute auf Lateinisch „unten“ und solle nicht mehr als die Perspektive der Menschen beim Anschlag veranschaulichen, so Max Richter. Das verdeutlichen auch die anfangs zu hörenden Morsesignale, das Rauschen von Rundfunkwellen und die tiefen Bässe. Der Übergang zum minimalistischen Klavierspiel erfolgt sanft und einfühlsam. Doch kaum habe ich mich an diese Klaviermeditation gewöhnt, werden diese von romantischen Streichermelodien abgelöst. Dieser Wechsel zwischen elektronischen und akustischen Sounds und die wachsende Dramaturgie durch das Zusammenlegen von aufeinander aufbauenden Ebenen zeichnet Max Richters brillantes Können aus. Nach knapp einer Stunde fließen bei mir nur noch die Tränen. Nicht, weil die Musik Erinnerungen in mir weckt; auch nicht, weil die Musik mich traurig stimmt. Sondern, weil die Musik so schön ist, dass die Freude, sie zu hören, mich einfach glücklich macht.
Nach einer kurzen Pause warte ich gespannt – Taschentücher immer griffbereit – auf den zweiten Konzertteil. Max Richter spielt das Album „The Blue Notebook“, das am 11. Mai 2018 als Neuauflage erschien. Den Namen verdankt das Album den Tagebüchern des polnischen Dichters Czesław Miłosz aus Kafkas Blue Octavo Notebooks, aus denen er auch Zitate verwendet. Initialzündung für die Komposition sei der Irakkrieg gewesen, erklärt er vorab, und die Erkenntnis, dass fiktive Geschichten bedeutsamer seien als Fakten. Den Frust über den anbahnenden Krieg hat er sich von der Seele geschrieben – und wie! Es ist ein Stück von schlichter, melancholischer Schönheit, in der ein voller natürlicher Streicherklang auf elektronischen Sound trifft. Sinnfällige Strukturen, nachträglich hinzugefügte Geräusche und die Lesung der Zitate von der Erzählerin Sarah Sutcliffe schaffen eine höchst eindringliche Atmosphäre.
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Musik, die bleibt!
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Nach minutenlanger Standing Ovation verlasse ich den Saal leise und bin in mich gekehrt, aber glücklich. Bei all den stillen Protesten auf der Bühne frage ich mich, was davon bei den Menschen hängen bleibt. Ob das Umschalten genauso radikal verläuft, wie der zeitweilige Kontrast zwischen der Welt da draußen und dem Konzert hier drin. Bei mir hallt die Musik noch viele Tage nach. Immer wieder höre ich die eindringlichen Melodien. Sie zeigen mir, dass Musik nicht undurchdringbare oder unhörbare Klangstrukturen aufweisen muss, damit sie bedeutsam ist. Musik kann auch verständlich komponiert sein und den altbekannten Gesetzen von Harmonie und Melodie folgen. Eine Musik für alle. Eine Musik, die bleibt.