Von Moskau nach Wladiwostok: Techno für 9300 Kilometer
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Interview am 17. Mai 2016
Text und Interview: Till Brokhausen // Fotos: Pressematerial Produktionsfirma IRL + Ballyhoo Media
Manchmal braucht es Tapetenwechsel, um andere Geschichten erzählen zu können oder neues über sich selbst zu lernen. Das gilt in der elektronischen Musik genauso wie im Alltag: Gold Panda veröffentlicht Erzählungen aus Japan, Stimming ließ sich kürzlich von den Alpen inspirieren und ein junger Franzose berichtet aus Russland. Thylacine, bürgerlich William Rezé, hat als Saxophonist-goes-Techno bisher hauptsächlich in Frankreich Wellen geschlagen. Im Sommer letzten Jahres ist er mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok gereist. 9300 Kilometer auf der längsten Zugstrecke der Welt ans andere Ende derselbigen.
Entstanden ist dabei nicht nur eine kleine Dokumentation (auf Französisch), sondern auch das passend betitelte Debütalbum „Transsiberian“: Eine energetische Techno-LP, vollgepackt mit Williams‘ Tonaufnahmen vom Zug, Bahnhofsdurchsagen und anderen Musiker_innen. Für das Cover hat er den Schriftzug seines Künstlernamens geändert. Wie Gleisschienen schießen das Y und L von „Thylacine“ jetzt in die Ferne, wie der Zug eben.
Im Herbst letzten Jahres, einige Monate also nachdem William den Weg auf sich genommen hat, bin ich selbst einen Teil der Strecke gefahren. Für mich ging es am Baikalsee nicht weiter nach Osten, sondern ins südliche China, wo William später auch mehrfach aufgetreten ist, um das Album vorzustellen. Ich wollte seine Geschichte der Reise hören und kennenlernen. Deswegen habe ich mich mit ihm über seine Reise und sein Album unterhalten.
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Hallo William, wie geht’s dir?
Ich bin vor einer Woche von einer großen Asientour nach Paris zurückgekehrt. Es war echt schön, insofern gut, danke.
Ich habe die Instagram-Fotos gesehen. Ich dachte eigentlich du seist nach Wladiwostok direkt durch Asien getourt…
Nein, nein, in Wladiwostok war ich ja vor knapp einem Jahr. Ich bin von Paris aus nach Asien geflogen und dann in China, Südkorea und am Ende Indonesien getourt.
Dann bist du in letzter Zeit viel gereist. Wie lang warst du die letzten Monate unterwegs?
In Asien war ich jetzt knapp zwei Wochen und auf der Transsibirischen war ich damals ein bisschen länger als zwei Wochen. Das war im Juni, lange her.
Warum hast du Russland und die transsibirische Strecke zum Hintergrund deines Albums gemacht?
Die ursprüngliche Idee war, den besten Ort für mich zu finden, der mir alles für ein gutes Album bietet. Ich mag es sehr, draußen während einer Reise zu komponieren, weil ich meine Musik mit Neuem füttern kann. Im Zug geht das sehr gut, ich habe ja bereits zwischen Konzerten in den Städten Frankreichs viel im Zug gearbeitet. Dann habe ich die Transsibirische entdeckt und dachte mir, das müsse für mich der beste Ort zum Komponieren sein. Ich kann mein ganzes Zeug in einem großen Koffer unterbringen, passt also gut in einen Zug, und ich kann auf dem Weg, während der Stopps, viele Leute kennenlernen. Und die Aussicht ist die perfekte Inspiration.
Es gibt ja weltweit viele lange Zugstrecken, der Orient-Express beispielsweise.
Anfangs ging es tatsächlich nur um eine Zugreise. Aber dann habe ich festgestellt, dass ich sehr wenig über Sibirien weiß. Es war der Fleck auf der Erde, von dem ich am wenigsten wusste. Es hat mich sehr gereizt, mich dem unvoreingenommen, ohne Bilder oder Vorurteile anzunehmen.
„Musik muss für mich einen Bezug auf echte Gegebenheiten haben, damit ich eine Geschichte erzählen kann.“
Was war denn das Interessanteste, das du gelernt hast?
Es ist trivial, aber dass Musik eine universelle Sprache ist. Ich war mit diesem Schamanen am Baikalsee. Mit Menschen, die ein komplett anderes Leben führen als wir, mit denen ich trotzdem über Musik sprechen konnte, Musik teilen konnte. Wir wissen alle, dass Musik universell ist, aber es war trotzdem überraschend für mich. Ich habe auch besser verstanden, dass Musik für mich einen Bezug auf echte Gegebenheiten haben muss, damit ich eine Geschichte erzählen kann. Vor der Reise habe ich immer nur in meinem Kopf gesucht und während des Trips habe ich festgestellt, dass es mir superwichtig ist, Musik so zu machen.
Gibt es eine andere Geschichte zu dem Album abgesehen von der Reise selbst? Ich habe die Reise selbst gemacht und hätte persönlich eine andere Untermalung ausgesucht. Dein Album hat sich für mich sehr energetisch, euphorisch angefühlt. Kaum melancholisch. Es kam mir vor als würdest du aus etwas ausbrechen…
Ich glaube, es hängt stark davon ab, welche Stopps du machst. Der vielleicht aggressivste Track, „Moskva“, geht ja nicht wirklich über die Transsibirische, sondern über Moskau. Andere Stücke, wie „Memories“ sind wiederum sehr melancholisch für mich. Meine Reise war allerdings auch sehr durchgeplant, ich war immer sehr beschäftigt, war mit Leuten verabredet. So hatte ich viel zu tun, wenn wir in kleinen Dörfern oder Großstädten angehalten haben. Ich stand unter Strom. Es kann ein großer Unterschied sein zu im Zug sitzen und nur die Landschaft vorüberziehen sehen.
Wie war deine Planung? Du hast im Zug hauptsächlich gearbeitet oder hast du dort auch Menschen getroffen?
Ich hatte eigentlich gehofft, mehr Leute im Zug zu treffen, aber meistens bin ich mit dem Gedanken in den Zug gestiegen „Ok, Tür zu, ich muss so viel erledigen, so viel Musik komponieren mit dem Material dieses Aufenthalts.“ So war ich dann die meiste Zeit in meinem Abteil, Tag und Nacht an der Arbeit. Ich war meist zwei Tage am Stück im Zug, sodass ich aber auch Menschen getroffen habe. Das waren hauptsächlich junge Militärs. Es gab viele Militärs auf der Strecke. Also keine großen Treffen tatsächlich, ich war mehr mit mir selbst und der Musik beschäftigt.
„Menschen, die schlicht ihre Familien besuchen, und ich musikmachend dazwischen.“
Die Fotos, die du von der Reise geteilt hast, zeigen dein Abteil zugestellt mit Studio-Ausrüstung. Wurdest du von Mitreisenden komisch angeschaut?
Ständig [lacht]. Ich glaube, sie sehen die Transsibirische nicht als etwas Exotisches an. Sie verstehen nicht, warum ich im Zug komponiere, aber es war lustig. Während der Stopps bin ich so durch die Bahnhöfe gegangen [tut so als würde er, die Ausrüstung geschultert, breitbeinig stapfen] und die Leute haben mich durch die Zugfenster beäugt. Es war auch lustig, weil wir den Strom [mit den anderen Reisenden] teilen mussten. Ich habe dann einen Mehrfachstecker genutzt, damit jeder seinen Kram anschließen konnte und ich mein Equipment. Der Kontrast war lustig. Menschen, die schlicht ihre Familien besuchen, und ich musikmachend dazwischen.
Als ich die Tracklist gesehen habe, habe ich mich gewundert, dass sie nicht in chronologischer Reihenfolge der Reise war…
Ja, darüber habe ich auch nachgedacht. Aber eine chronologische Folge wäre komisch gewesen. Einige Stücke habe ich zu Beginn der Reise angefangen, aber erst viel später fertiggestellt. Manchmal fange ich einen Track an und verbringe dann zwei oder drei Tage ohne daran zu arbeiten, um mich ihm wieder mit klarem Kopf widmen zu können. Ich habe mich also für eine Reihenfolge entschieden, die einer musikalischen Logik folgt. Aber auf dem Rückencover des Albums habe ich nochmal illustriert, welcher Track wo aufgenommen wurde.
Hast du je herausgefunden, was die Menschen, die du aufgenommen hast, gesungen haben?
Ja, es war nicht einfach, weil die meisten Stimmen gar nicht Russisch gesungen haben. In Belobezvodnoe war es ein tatarisches Lied über die Liebe einer Mutter, die Familie und die Heimat. Ein sehr melancholisches Lied, über die Rückkehr nach Hause und die Mutter, die auf dich wartet. Tatarisch ist wie Türkisch, nur kein Türkisch [lacht]. Der Schamane hat auf Burjatisch gesungen. Ich weiß nicht mehr worum es genau ging, aber es war eine Epopöe, eine Heldengeschichte. Seine kleinen Töchter haben ein Liebeslied gesungen, aber es war seltsam, denn der Text ging in etwa so: „Liebe ist schwer, sie kann dich zerstören…“ Die Mädchen haben das gesungen und unschuldig dazu getanzt.
Was ich sehr toll fand, waren die Samples aus der Metro, die ich zu Beginn von „Moskva“ benutzt habe. Eines davon war aus einer Werbung, die körperliche Stärke propagiert hat. Artemis, ein Freund, den ich dort getroffen habe, erzählte mir, ihm gefiele das Verhältnis der Energie des Songs zu den Worten. Es war schwierig jemanden zu finden, der alles übersetzen konnte, aber einige Menschen, die wir auf der Reise getroffen haben, konnten uns helfen. Das hat mich ziemlich glücklich gemacht.
Hast du das Sample ausgewählt, weil du bereits wusstest, was es bedeutet?
Nein, es war eine positive Überraschung [lacht].
„Moskva“ ist meiner Meinung nach dein kraftvollstes Stück des Albums. Hast du das russische Nachtleben, gerade in Moskau, genießen können? Ich weiß, dass du es in Wladiwostok halbwegs konntest, weil du am Ende der Reise dort einen Auftritt hattest.
In Moskau waren wir in einigen Bars, aber auf keinen großen Parties. Wir haben allerdings einige der Locations bei Tag gesehen und es war komisch, weil man nur fantasieren konnte, was da abgehen kann. In Moskau war es ein kurzer Halt, anderthalb Tage waren wir dort. Die Stadt hat mich schockiert, weil ich das Gefühl hatte, dass die Menschen ihre Stadt nicht „claimen“. Es gibt keine Dekoration am Balkon, kein Graffiti. Es ist sehr korrekt mit wenig menschlichen Spuren, in Amsterdam oder Berlin erlebt man das anders. Ich bin allerdings vor einem Monat wieder in Moskau gewesen, um die Sänger aus Belobezvodnoe wiederzusehen, und ich habe neue Viertel Moskaus gesehen, manche mit Graffiti.
„Ich liebe es, die Stimmen und die Geschichte weiterreisen zu lassen.“
Du hast vermutlich bereits einige der Tracks des Albums während Livegigs gespielt. Aber wie war es, in Wladiwostok die Stücke zum ersten Mal zu spielen?
Ich arbeite live und zum Produzieren an verschiedener Software. Der Transfer ist zeitaufwendig. Im Zug habe ich das nicht geschafft, obwohl ich wollte, und so habe ich bei dem Auftritt nur einige der Samples eingesetzt. Kurz nachdem ich von der Reise zurückgekehrt war, hatte ich eine große Headlineshow in Paris. Da habe ich dann eine frühe Version von „Belobezvodnoe“ gespielt. Es war sehr emotional, das für so viele andere Menschen zu spielen. Auch in Asien, wo die Länder ja teils auch sehr weit von Russland entfernt sind. Es war ein ganz anderes Setting, aber ich liebe es, die Stimmen und die Geschichte weiterreisen zu lassen.
Also hast du eine Lieblingserinnerung an deine Reise?
Ich würde sagen es war das Treffen mit den Sängerinnen von Belobezvodnoe. Es war mein erstes musikalisches Treffen der Reise, und ich hatte so hart daran gearbeitet, das Projekt umzusetzen. Ich wusste nicht was während der Reise passieren würde. Das Treffen war auch gar nicht geplant, Artemis hat uns einfach dorthin gebracht, den Bürgermeister der Stadt angerufen und dieses kleine Konzert und alles andere organisiert. Das war sehr emotional für mich, weil ich dachte „Wow, ich hab’s endlich geschafft“ und dann auch noch auf die beste mögliche Weise, mit Menschen, die mir ihre Musik anbieten. Das ist definitiv die beste Erinnerung.
Nach dem Treffen mit den Sängerinnen hat mich Artemis dann zu einer traditionellen Sauna gebracht, ба́ня auf Russisch (sprich „Banja“). Ich habe den Tag also nackt abgeschlossen, schwitzend. Ein verrückter Tag, weil ich Artemis ja auch hier zum ersten Mal getroffen hatte und es war so eine verrückte aber besondere Art ihn kennenzulernen.
William, danke für das Interview.
Gerne.
„Transsiberian“ ist letzten Winter bereits in Frankreich erschienen und wird diese Woche auch im Rest der Welt veröffentlicht. Eine Besprechung des Albums könnt ihr bald auch hier lesen.
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Am 21. Juni 2016 ist Thylacine live im Kesselhaus zu sehen. Weitere Tourdaten für Europa findet Ihr auf seiner Homepage.