Cardinal Sessions am 22. Oktober 2016 im Molotow Hamburg
Bericht: Till Brokhausen // Fotos: Isidora Vrbavac
Vor einer Woche ging das Cardinal Sessions Festival in die dritte Runde. In Hamburg haben sich sechs Bands die Ehre und uns eine Menge Spaß gegeben. Ein Rückblick.
Am unteren Ende der Reeperbahn, da bei dem siffigen Penny, findet man das Molotow. Der Hamburger Club ist von der Sündenmeile genauso wenig wegzudenken, wie… na was eigentlich? Viele Vergleiche drängen sich auf, doch ehrlicherweise haben die Räumlichkeiten mit der roten Kassettendecke und den labyrinthischen Gängen im Keller qualitativ kaum vergleichbare Konkurrenz.
So wundert es mich zunächst kaum, dass das Cardinal Sessions Festival auch in der dritten Ausgabe dem Molotow treu bleibt. Dass das Festival aus dem Laden langsam rauswächst, merkt man anfangs auch überhaupt nicht. Als sich die Pforten zum Club um 18 Uhr öffnen stehen davor nur verstreut einige Pärchen und solche, die noch auf ihre_n Partner_in warten. Mir soll´s recht sein, ich warte selbst noch auf meine Begleitung und gehe selbst erst um 18:40 Uhr hinein. Fünf Minuten später tritt die erste Band auf.
Technikkampf und Intimität
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Das Molo ist gerade halb-voll als Phoria die Bühne betreten; die Anwesenden halten noch diesen unsäglichen Anstandsabstand vor der Band. Dabei ist die Bühne nicht sehr hoch, vom Publikum nicht getrennt und so gelegen, dass man direkt neben der Band steht, wenn man den Raum betritt. Die perfekten Bedingungen also für ein intimes Konzert, dem auch Phorias reduzierter Synthpop in die Hände spielt.
Doch statt intime, emotionale Momente zu schaffen, bleibt das Verhältnis zwischen Publikum und Phoria eher kühl. Frontmann Seryn wirkt steif, sein Gesichtsausdruck verkrampft. Zwischen den Songs kämpft er mit dem Tontechniker einen stummen Kampf um die Lautstärke seines Mikrophons, den er verliert. Die Niederlage lässt er sich anmerken. In den Liedern klingt seine Stimme dünn, verschwimmt phasenweise im Reverb der Band. Erst mit dem letzten Track fegt krachender Bombast die erzwungene Ruhe hinweg. Es kommt Bewegung auf und vor die Bühne. Leider ist es da schon vorbei.
Die Band tritt ab, die Bewegung in der Masse bleibt. Das zweite Konzert findet im sogenannten Karatekeller statt. Die Wand hinter der Band ist mit Lichterketten und bunten Glühbirnen dekoriert, an den Wänden drum herum zerfließen weiße chinesische Schriftzeichen ineinander. Der Raum ist um ein vielfaches kleiner als der Club oben, für ÄTNAs impulsive Musik aber wie geschaffen. Das Duo wirkt auf der gerade ausreichend großen Bühne wie ausgestellt, trotz fehlender Absperrung und ebenerdiger Bühne. Vielleicht lässt aber auch die offenbar erstarrte erste Reihe den Eindruck entstehen, wir alle seien Gaffer vor einem Schaufenster. Vor allem zwei Jungs stehen wie verliebt vor der Band, die aber auch wirklich zum Verlieben ist.
ÄTNA alternieren zwischen ruhigen Keyboardmelodien mit minimalistischen Beats und kraftvollen Eruptionen in Inéz‘ Stimme und Demians Drummer-Armen. Spätestens als Demian mit einer Art Rassel in Gestalt einer pausbäckigen Puppe kleine Glöckchen erklingen lässt, haben ÄTNA mein Herz erobert. Ich kann jetzt schon vorwegnehmen, dass das mit das beste Konzert des Abends war.
Energie und Chaos mit Unterbrechung
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Leider hatten ÄTNA auch nur eine halbe Stunde Musik für uns, anschließend also wieder nach oben in den Club, nächste Band. Dieser ständige Wechsel von Räumen hat leider ein bisschen genervt, war aber unvermeidbar, wenn man die Pausen zwischen den Bands möglichst gering halten wollte. Ironischerweise hätten gerade diese Pausen gern etwas länger sein können.
Wieder im Club. Im großen Raum wird jetzt zum gitarrespielenden Songwriter-Punk Faber getanzt. Mit Rhythmus regt er zum Tanzen, mit Witz zwischen den Songs regt er zum Lachen an. Frech und flirtend steht er mit seinem Posaunist auf der Bühne und haut in die Saiten, bis eine reißt. Der Posaunist spielt einige Minuten ein tanzbares Solo, das nach Lokomotive klingt, während Faber routiniert die Saite tauscht. Viel Polka-Power, viel Humor aber immer mit Stoff zum Nachdenken: Faber ist absoluter Publikumsliebling und musikalisch ein harter Bruch zu ÄTNA und zu der Französin Pomme, die im Anschluss den Karatekeller bespielt. Das stört erst bei Pomme.
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[column] Faber[/column]
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Pomme wirkt kindlich, beinah ein bisschen unsicher, aber sichtlich froh, auftreten zu dürfen. Mit viel Zärtlichkeit und Leidenschaft trägt sie ihre melancholischen Lieder vor, eins davon ein trauriges „Umbrella“-Cover. Nur einmal unterbricht sie ihre Malaise und betont, das nächste Stück sei ihr einziger erhebender Song an diesem Abend. Das ist in Ordnung. Ohnehin geht die junge Chanteuse zwischen diesem Kerl Faber und den Chaoten namens Leoniden etwas unter. Die Cardinal Sessions sind bisher eine Tempoachterbahn und die Spitzengeschwindigkeiten bleiben halt doch am meisten in Erinnerung.
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[column] Leoniden[/column]
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Leoniden bleiben definitiv in Erinnerung. Wenn Faber vorhin Power geboten hat, dann sind sie die offene Büchse der Pandora. Das Quintett ersetzt jede Abrissbirne, nur der Drummer und der Bassist halten sich im Schatten versteckt. Der Rest fegt wie Derwische auf Pep über die Bühne. Lennart, an der Gitarre, ist der Tornado unter ihnen. Der Hals seiner um ihn kreisenden Gitarre säbelt einigen Zuschauer_innen fast den Kopf ab, zwischendurch beißt er wie manisch in die Boxen an der Decke, nimmt das Mikrophon in den Mund oder hebt sein Instrument wie ein Schamane Richtung Decke. Gelegentlich lenkt das etwas zu sehr von der eigentlichen Musik ab, doch Keyboarder Djamin und Sänger Jakob hinken mit heimlichen Schlücken aus der 0,5-l-Pulle Jägermeister, Drake-Dancemoves und schweren, fast unnatürlichen Atemzügen kaum hinterher.
Abschluss zum Ertrinken oder Wegschwimmen
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Damit wäre das ein absoluter Höhepunkt und ein guter Abschluss für die Cardinal Sessions gewesen. Doch im Karatekeller warten noch Flyying Colours, die jene Zuschauer_innen mit Energiereserven in ewig dröhnendem Gitarrenrauschen ertränken. Wenn der Frontmann zwischen den Songs zum Publikum spricht, weckt der Hall in seiner Stimme den Eindruck er würde im Traum zu mir sprechen.
Ansonsten gibt’s von den Australier_innen am Ende dann doch eher anstrengenden Shoegaze und selbstvergessene Gesichtsausdrücke. Unter anderen Umständen wäre das sicher ein schöner Abschluss, doch nachdem man fünf Mal den Raum gewechselt und fünf Bands zugehört hat, kann ich mich darauf nicht mehr einlassen.
Dabei ist die Vielfalt der präsenten Musikstile eines der besten Argumente für das kleine Festival. Die Cardinal Sessions verlasse ich entsprechend verschwitzt, aber zufrieden.