Das hier also unabdingliche „Whatever“-Gefühl zu erreichen ist ein Ziel, welches die zahlreichen Events, Preis-Verleihungen und Parties mit Freigetränken um einiges einfacher machen.
Reeperbahnfestival vom 19. -22. 09.2018 in Hamburg
Text und Fotos: Julia Silko
Das Reeperbahnfestival 2018 in wenigen Sätzen zu beschreiben, wird diesem großartigen Festival natürlich in keinster Weise gerecht. Müsste man es doch probieren, könnte man aus dem aktuellen Song von Bosse zitieren: „Alles ist jetzt. Es ist alles, alles jetzt.“
Mit diesem Gefühl geht, oder, besser gesagt, rennt man Hamburgs Lustmeile auf und ab, eilt von einem Highlight zum nächsten, bevor man auf irgendeiner freistehenden Bühne eine_n weitere_n tolle_n Künstler_in entdeckt, für die/den es sich lohnt stehen zu bleiben und der wiederum, fuck, den straffen Zeitplan ruiniert.
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Zu viele tolle Künstler_innen, zu wenig Zeit
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Es ist also zunächst angebracht, sich in Geduld und Gelassenheit zu üben: Alle der über 600 Künstler_innen in den 80 Locations wird man halt eh nicht sehen können. Ist man zusätzlich noch an ein paar der Panels und Diskussionen interessiert, wird es nicht einmal ein kleiner Bruchteil vor die Augen und in die Ohren schaffen. Das hier also unabdingliche „Whatever“-Gefühl zu erreichen ist ein Ziel, welches die zahlreichen Events, Preis-Verleihungen und Parties mit Freigetränken um einiges einfacher machen. So lässt es sich schon gelassener sehen und vor allem, hören.
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Viel Musik, viel Alkohol
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Die Musikbranche feiert halt gerne. Und selbige schmort hier ein bisschen im eigenen Bier, äh, Saft: Die Majors feiern sich selbst, die Indies feiern ein weiteres Jahr Bestehen, die Journalist_innen bedauern, was es nicht mehr gibt: Hauptthema dieses Gespräches ist dieses Jahr zweifellos das Ende der Musikzeitschrift INTRO.
Erstaunlicherweise bringt dieses luxuriöse Überangebot aber auch etwas Gutes: Vieles geht in der schieren Masse unter und einige Künstler_innen stechen durch ihre Wundervollheit so sehr heraus, dass sie im Ohr bleiben.
Hier erwähnenswert ist der 23-jährige Singer/Songwriter Zak Abel, der einen mit seiner Stimme, seiner Ausstrahlung und seinem leichtfüssigen Feelgood-Pop den ganzen Club direkt zum Tanzen bringt.
Gleiches gilt für Neo-Soul-Künstler Lui Hill, der mit seiner eigenen Mischung aus Hip Hop, Indie und Soul dem aktuell populären Genre neue Impulse entgegensetzt. Sehr hörenswert.
Etwas ruhiger und gesetzter, aber mit keineswegs weniger Strahlkraft ließ es dann S. Carey, der Drummer von Bon Iver angehen. Poetische, powerreiche Songs überrollen einen und lassen bei vielen Zuschauer_innen nur ein breites Lächeln im Gesicht.
Fabian Altstötter a.k.a. Jungstötter, der vielen von SIZARR bekannt ist, schafft trotz fehlenden Pianisten eine intime Atmosphäre zu kreieren, die die Zerbrechlichkeit seiner Musik herausstechen ließ. Klare Hörempfehlung für bald erscheinendes Album also.
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Feminismus und ein klares Ziel
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Eine Newcomerin, von der man noch viel hören wird, könnte die australische Singer/Songwriterin Angie McMahon sein, die zwar noch etwas unfertig wirkt, die aber mit ihrer klaren feministischen Haltung und Mut zum Wesentlichen direkt ins Schwarze vieler RBF-Diskussionen trifft: Dass der Feminismus immer mehr zum Thema für eine Branche wird, die überwiegend männerdominiert ist, blitze zwar den ganzen Festival-Sommer 2018 über durch (siehe Melt-Festival), beim RBF wird aber konkret an Arbeits- und Lösungsansätzen gearbeitet. So präsentiert die Initiative der britischen PRS Foundation ein klar definiertes Ziel: Bis 2022 soll der Anteil der männlichen und weiblichen Künstler_innen auf Festivals ausgewogen und im besten Fall 50/50 betragen.
Neben den vielen weiteren tollen Diskussionen, den tollen Panels und krassen Konzerten (Parcels, Das Paradis, Get Well Soon) bleibt ein persönliches Highlight jedoch das Konzert von der Folkband Bear’s Den in der Elbphilharmonie. Wahnsinns-Stimmen, durch Bläser_innen und Streicher_innen fantastisch ergänzte Songs. Durch Paul Frith ein Arrangement der Superklasse und schließlich die Atmosphäre und der Sound der Elbphilharmonie sind zusammen eine schwer zu übertreffende Kombination. Das scheint auch dem Chef-Bären und Frontmann Andrew Davie klar zu sein, der sich mehrfach für diese Konzertmöglichkeit bedankt.
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Konzerte, in die man reinkommt und Konzerte, die gar nicht stattfinden
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Nach so viel Lob muss allerdings auch erwähnt werden, dass nicht alles rund lief: Wermutstropfen sind die zahlreichen Einlassstops, mit denen wohl am ausverkauften Freitag und Samstagabend nicht gerechnet wurde.
Auch für den Hip Hop war es ein, sagen wir, eher mageres Jahr: Chima Ede sagte ab, Grime-Boi Stormzy, so munkelt man, verpasste den Flug und der als Antwort auf Kendrick Lamar angepriesene Serious Klein lieferte mehr ein Animationsprogramm im Clubhotel als ein Hiphop-Konzert ab, indem er für seine zahlreichen Mitmachen-Aktionen („Wave your hands in the air“) einige Songs unterbrach. Fairerweise muss hier ausdrücklich erwähnt werden, dass dies in keinsterweise dem sonst live ziemlich guten Rapper entspricht. Das nächste Mal wirklich mehr Hip Hop und weniger Quatsch dann, bitte.
Und so verbringt die wunderbar-versoffene Musikbranche nach dieser Hamburger Schnitzeljagd der Superlative den Sonntag dann also mit auskatern, einem letzten Biss ins Fischbrötchen und dem Schwelgen in fantastischen Erinnerungen.
Bis zum nächsten Jahr, du wahnsinniges, chaotisches, musikliebendes Reeperbahn Festival.
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