Text und Fotos: Yvonne Hartmann
Eines sei unseren ganz jungen Leser_innen vorweggenommen: vergesst den 18. Geburtstag, die 20 wird heute im großen Stil gefeiert. Und das Melt! Festival hat es vorgemacht – mit Pauken und Trompeten (oder besser gesagt mit Bass-Lines und Synths) stieg vom 13. bis 17. Juli die Geburtstagsparty des Berliner Festival Klassikers in Ferropolis (Gräfenhainichen). Geboten wurde ein umfangreiches Musikbuffet aus Elektro und Indie, welches es schwierig machte, von allem mal zu kosten. Wir durften Samstag und Sonntag mitfeiern!
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Gelände-Check
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Nicht zuletzt durch die spektakuläre Location, mit ihren fünf enormen ausgedienten Schaufelrad- und Eimerkettenbaggern des ehemaligen Braunkohle Tagebaus Golpa-Nord als klaren Heimvorteil, zieht das Melt! Festival jedes Jahr rund 20.000 Besucher_innen an. Gefühlt waren es in diesem Jahr allerdings nicht ganz so viele wie in den Vorjahren.
In dieser “Mad Max” – Kulisse versteckten sich sieben Bühnen, jede wie immer mit ihrem eigenen Charme und ihrer eigenen Zielgruppe: da war die große Melt! Stage, gleich daneben die etwas kleinere Medusa Stage, die kleine Melt! Selektor Stage gegenüber und die Big Wheel Stage am Schaufelradbagger. Versteckt im Wald fanden wir die Sisyphos Bühne und nicht weit von ihr die Gremmin Beach Bühne. Für alle, die tagsüber nicht genug getanzt haben, bot der berühmte Sleepless Floor außerhalb des offiziellen Festivalgeländes ein Non-Stop Programm und machte Nächte zu Tagen. Rundum, ein vielseitiger Mix mit kurzen Laufwegen, und das fast ohne Soundeinbußen.
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Aufwärmprogramm mit Neuentdeckung
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Bei bestem Wetter kam die Party mit Techno DJane Jennifer Cardini Samstagnachmittag am Gremmin Beach eher gemütlich in Fahrt. Der optimale Ort, um sich noch etwas von der vorherigen Nacht zu erholen. Diese war zwar von Dauerregen geprägt, muss aber (unter anderem) mit Richie Hawtin, Dengue Dengue Dengue! und Marcel Dettman, für den/die ein oder andere_n wohl trotzdem recht lang gewesen sein.
Nach dem Aufwärmprogramm ging es zur Melt! Selektor Stage, wo Noga Erez (meine persönliche Neuentdeckung) es bereits schaffte, mit frischem Elektropop ihrem Publikum etwas mehr Leben einzuhauchen. Es liegt in der Luft, dass die junge Sängerin und Produzentin aus Tel Aviv, die gerade ihr Debütalbum “Off The Radar” veröffentlicht hat, mit ihrer Musik nicht nur unterhalten will, sondern mit politisch aufgeladenen Texten auch etwas zu sagen hat. Um 19:00 Uhr übernahm das DJ- und Produzenten-Duo Dark Sky aus London die Bühne und sorgte für etwas härtere Beats, begleitet von abstrakten Visuals.
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Stage Hopping ab 9
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Ab 21 Uhr bestätigte sich meine Befürchtung eines endlosen Stage-Hoppings zwischen den beiden Hauptbühnen “Melt” und “Medusa”. Es ging mit Warpaint und gutem, groovigen Sound los. Gefolgt von Sampha, der mit einer außergewöhnlichen Begabung als Songwriter und seinem Klavier allein das Publikum zu berühren versteht.
Bilderbuch versprühten ab 23:00 Uhr mit ihrem österreichischen Charme eine Extraportion gute Laune. Ihr frecher Deutschrock erzeugte nicht nur kollektives Kopfnicken, sondern verwandelte das Publikum zeitweise in einen Massenchor.
Um 01:00 Uhr wurde die Melt! Fangemeinde dann endgültig in einen Tanzrausch versetzt. Mit einem vielseitigen Liveset vor utopischer Ferropolis-Kulisse hatte Bonobo ein leichtes Spiel. Die vierköpfige Band um den Briten und die zarte Stimme von Sängerin Szjerdene schaffte einen Spagat zwischen Dance-Or-Die Stimmung und sphärisch-melancholischen Passagen. Aber auch in letzteren stand kein Fuß still, ohne Frage der Höhepunkt des Melt!-Samstags.
Der Samstag sollte allerdings hier noch nicht enden. Während Tale of Us am Big Wheel Geschichten mit Killerbässen erzählten, schickten uns Gus Gus ab 2:30 auf der Medusa Stage auf eine Reise durch ihren vertrauten Kosmos aus Synth-Pop, tiefem Techno und bis hin zu progressivem House.
Nach einer kurzen Verschnaufpause ging es rüber zum Gremmin Beach, wo Dixon’s Tech- und Deep House schon für Ibiza-Feeling sorgte. Die kühle Nacht tat der hitzigen Tanzlaune hier keinen Abbruch. Die Tanzfläche am kleinen Strand der Halbinsel war gut besucht.
Auf dem Weg zum Campingplatz um 04:00 Uhr morgens überraschte mich und meine müden Beine noch das Pop-Trio WhoMadeWho. Ihr ausgefallener Mix aus Beats und Basslines gepaart mit Elektro-Synths, Kastagnetten, Oboen und/oder harmonischem Gesang erzeugte zu später Stunde noch Suchtpotenzial und hielt selbst erschöpfte Gemüter wie mich noch auf den Beinen. Nach einer letzten Tanzeinlage ging bei mir allerdings nix mehr und ich genoss den Rest des Sets bei einem warmen Chai-Tee in passiver Stellung.
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Sonntag
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Nach 4 Stunden Schlaf war die Erleichterung groß, den zweiten Festivaltag ruhig angehen lassen zu können. Bevor das Festivalgelände erst um 16 Uhr seine Pforten öffnete, stattete ich mit meiner Begleitung dem Sleepless Floor und einigen unbemannten Seelen einen Besuch ab. Trikk’s komplexer House-Mix wärmte die müden Beinmuskeln langsam wieder auf und brachte alle, die nicht eh die Nacht hier verbracht hatten, wieder in Partystimmung.
Es ging spät los am Sonntag, aber dafür war das Abendprogramm nicht weniger straff als am Vortag. Erster Must-See-Act heute: The Kills. Und die legten mit einer souveränen Rockshow vor. Sängerin Alison Mosshart’s Energiereserven schienen bei 120% zu liegen, unerlässlich rockte sie headbangend über die Bühne. Das Publikum schien zu diesem Zeitpunkt allerdings noch im Lademodus zu sein.
Um 20:15 Uhr verfolgte ich den Rest von The Kills bereits von der noch leeren Medusa Stage. Denn hier waren Soulwax als nächstes dran. Ich verzichtete auf den Fotograben, denn von ihrem Auftritt auf der “25 Years of Intro Magazine” Party in Berlin hatte ich ihr einzigartiges Bühnen-Setup mit drei Drum-Kits, einem gigantischen Mixpult und jeder Menge analogen Synths auf der Bühne noch gut in Erinnerung. Das wollte ich dieses Mal komplett auf dem Bild haben und so sicherte ich mir ein Plätzchen auf einem der Pfeiler vor der Bühne. Eine gute Wahl! Von hier aus alles im Blick stellte es sich als idealer Platz heraus, um mit der elektrisierten Menge zu feiern.
Die Indie-Veteranen von Phoenix übernahmen danach die Main Stage. Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, aber nach der Tanzorgie bei Soulwax schmeckte mir persönlich die Show von Phoenix etwas fad. Das ging allerdings nicht allen so, Menschen tanzten mit Fahnen, barfuß, ließen Seifenblasen steigen und Konfetti fliegen. Zum Höhepunkt der Show ließ sich Sänger Thomas Mars zur Freude der Fans noch zum Crowdsurfen hinreißen.
Mit ersten Müdigkeitserscheinungen ging es wieder zurück zur Medusa Stage, wo mit SOHN (er kommt im Herbst auf kleine Tour!) schon der nächste Headliner in den Startlöchern stand. Pünktlich (wie übrigens alle Acts an diesem Wochenende) um 22:30 Uhr betrat er die Bühne. Mit dem typisch dunklen Outfit hinter seinem Synthesizer sitzend ist sein Bühnenbild so minimalistisch wie mystisch. Doch viel mehr braucht er nicht, um mit seinen Elektrobeats, einer Prise Pop, einer Handvoll Melancholie und seiner klaren Stimme eine musikalisch multidimensionale Traumwelt zu erzeugen.
Den krönenden Abschluss machten Die Antwoord, die es nicht nur mit Pyrotechnik krachen ließen, sondern wie gewohnt eine energiegeladene Show der etwas anderen Art ablieferten. Die Kapazität des Innenraums vor der Main Stage war zu diesem Zeitpunkt wohl zum ersten Mal an diesem Wochenende bis auf den letzten Platz ausgelastet.
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Festival Vibes
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Wir waren eine Einheit, eine Horde Menschen, die in der “Stadt aus Eisen” zusammen gekommen war mit einem einzigen gemeinsamen Ziel: eine gute Zeit zu verbringen. Wir kamen aus allen Ecken der Welt und waren doch irgendwie gemeinsam hier.
Freundschaften wurden geknüpft, Studentenfutter geteilt, Mobiltelefone gingen verloren, wurden gefunden und fanden ihren Weg zurück zu ihren Besitzer_innen. Eine Atmosphäre, die ich vom Hurricane oder Bizarre Festival in Erinnerung hatte, auf einem Lollapalooza aber bisher vermisste. Ein Festival mitten in der Stadt, bei dem jede_r nach den Headlinern nach Hause geht, ist eben nicht das Gleiche.
Verpflegung gab es in Hülle und Fülle, für jeden Geschmack und das meistens ohne lange Wartezeiten. Auch auf den Toiletten bildeten sich nur zur Rush-Hour zwischen den Headlinern mal (überschaubare) Warteschlangen.
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ZUSAMMENGEFASST
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Eine gelungene Geburtstagssause mit vielseitigem Programm, wechselnden Wetterbedingungen aber bester Stimmung, übrigens auch bei den Melt! Mitarbeiter_innen. Vom netten Herrn am VIP-Eingang bis hin zu den beiden gut gelaunten Jungs am Kaffeestand oder dem Presseteam waren hier (zumindest in meiner Gegenwart) alle sehr hilfsbereit und gut gelaunt.
Danke Melt!
Nächstes Jahr gerne wieder.
PS: in Kürze wird es nach und nach diese und weitere Fotos auf unserem Instagram Profil geben. Schaut vorbei!